Wie trackt man eigentlich Wutpotenziale: Unser Backlash-Radar

Nicht zuletzt durch die Pandemie und die Querdenker-Bewegungen sind Verschwörungserzählungen im öffentlichen Diskurs zunehmend präsent. Bereits zu Beginn der Pandemie gingen Verschwörungsnarrative zum Coronavirus auch mit abwehrenden Haltungen zu anderen „progressiven“ Thematiken wie etwa dem Klimaschutz einher. Aktuelle Krisen, wie die Energiekrise oder der Krieg in der Ukraine, scheinen diese Tendenz zu verstärken – und führen zur Frage, ob mit den Krisen auch das Wutpotenzial in der Bevölkerung steigt und zu einer Art breiten Gegenbewegung gegen Klimaschutz mobilisieren könnte.

Für eine Kundin hat pollytix einen Backlash-Radar entwickelt, um mögliche Wut-Themen im Zusammenhang mit Klimaschutz frühzeitig aufzudecken und das Mobilisierungspotenzial im Zeitverlauf zu verfolgen. Der besondere Fokus gilt dabei der Frage, inwiefern Ablehnung den Weg aus der verschwörungsgläubigen Bubble in den Mainstream finden. Dafür tracken wir kontinuierlich in mehreren Wellen über einen längeren Zeitraum relevante Veränderungen.

Mit Methodenmix zur holistischen Perspektive

Ausgangspunkt im Projekt waren für uns folgende Fragen:

  • Wie identifizieren wir relevante Akteur*innen, die meinungsführend im Bereich der verschwörungsgläubigen Szenen sowie im Kampf gegen Klimaschutz sind?
  • Welche Themen und Narrative lassen sich in diesen Szenen beobachten?
  • Inwiefern finden diese Themen im gesellschaftlichen Diskurs Anschluss?
  • Wie lassen sich diese Einstellungen, Wutpotentiale und Haltungen in der breiten Bevölkerung abbilden und tracken?

Dafür hat pollytix ein mehrstufiges Forschungsdesign mit qualitativen und quantitativen Methoden entwickelt.

Gemeinsam mit Expert*innen den Kontext verstehen

Im Mai haben wir gemeinsam mit zehn Expert*innen aus verschiedenen Bereichen wie Protestforschung, Online-Radikalisierung, alternativen Medien und Rechtsextremismus einen Überblick relevanter Akteur*innen und erster Narrative erarbeitet. Der Austausch bestätigte auch, dass bisher wenig qualitative Untersuchungen von Telegram oder explorative Perspektiven von relevanten Trends vorliegen.

Bei Telegram ethnografisch in die digitalen Milieus eintauchen

Umso wichtiger war es, Themen und Argumentationsmuster direkt an den Orten ihrer Diskussion zu verfolgen. Dazu haben sind wir in mehreren Wellen für mehrere Wochen in ausgewählte Telegram-Kanäle und Gruppen eingetaucht und konnten so Dynamiken und thematischen Veränderungen der Szene direkt beobachten. Der Fokus lag dabei auf jeglichen Bezug zu Klimaschutzmaßnahmen sowie damit verbundenen Feindbildern und Streitpunkten. Insgesamt wurden so über 2.000 ausgewählte Beiträge analysiert und in Cluster eingeteilt, um pro Welle bis zu acht relevante Themenfelder zu skizzieren und Veränderungen aufzuzeigen sowie zu prognostizieren.

In Fokusgruppen Anschlussfähigkeit explorieren

Moderierte Gruppengespräche eignen sich bestens dafür, alltäglichen sozialen Dynamiken und Gesprächssituationen nachzuzeichnen. In jeder Welle wurden so Themen und Narrative aus den Telegram-Gruppen „getestet“ und überprüft, inwiefern beispielsweise abwehrende Haltungen zu einzelnen Klimaschutzmaßnahmen (etwa Tempolimits oder der Ausbau der Windenergie) aber auch verschwörungserzählerische Anleihen auch in der Mitte der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen. Dazu wurden Thesen aus der Telegram-Recherche gemeinsam mit Teilnehmenden (sowohl aus eher klima-skeptischem Milieus als auch der gesellschaftlichen Mitte) diskutiert und qualitative Einschätzungen zum Mobilisierungspotenzial entwickelt.

Quantitativ-validierte Ergebnisse für die Radar-Erstellung nutzen

Bevölkerungsrepräsentative Befragungen validierten und quantifizierten die qualitativen Ergebnisse. Darüber hinaus boten uns die quantitativen Stufen die Möglichkeit, die Bevölkerung mit Bezug auf Haltungen und Einstellungsmuster zu segmentieren. Identifiziert werden konnten so insbesondere Milieus, die als „Misstrauische“ besonders ablehnend auf Klimaschutzmaßnahmen reagieren. Letztlich sind es Haltungen dieses Milieus, die es weiterhin zu beobachten gilt, denn die Erfahrung zeigt: Wenn sie es schaffen mit ihren Narrativen die gesellschaftliche Mitte zu ‚infizieren‘, ist das nur noch mit sehr großem Aufwand umzukehren. Daher gilt es, frühzeitig sinnvolle Gegenargumentationen zu entwickeln, durch Forschung zu testen und feinzuschleifen und gesellschaftlich zu etablieren.